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Ertragreiche Jagd

Von Jeffrey Campbell

Vorherige Geschichte

Kiir passte den Zoom ihres Visiers an und betrachtete das mandelförmige Karrid-Blatt etwas genauer. Sein durchdringendes Jadegrün wurde durch eine Schichte weißen Frosts getrübt – das Geschenk einer frühen Eisflut.

Der Frost interessierte sie allerdings nicht sonderlich. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Spur von pink leuchtenden Kristallen, die sich in Blitzform diagonal über die gefrorene Oberfläche des Blattes zog. Überall dort, wo die seltsame Anhäufung von Kristallen in Berührung mit der grünen Oberfläche kam, schien es zu sonderbaren Anomalien gekommen zu sein. Venen verknoteten sich zu geometrischen Mustern. Zellstrukturen schienen geradezu zu explodieren.

Ember blühte. Chimärische Mutationen.

Kiir ließ das Blatt zu Boden gleiten und sah zum Karrid-Baum auf. Zwei parallele Schnitte voll pinken Embers hatten sich durch die raue Rinde geschlagen. Diese Kristalle waren deutlich größer – mindestens handtellergroß – und hatten sich zu den so typischen vierkantigen Pyramiden verformt, deren Spitzen abrasiert waren. Das Licht, das aus ihrem Inneren strömte, war jedoch rosig. Es strotze geradezu vor Kraft.

Und kein Ember, das ihr bekannt war, schien diesem hier nahe zu kommen.

Ihr Herz begann vor Aufregung laut zu schlagen. Mit einem Knopfdruck ließ sie die Düsen ihres Anzugs aufheulen und stieg hoch in die Luft, um das Tal aus der Vogelperspektive zu betrachten. Es unterschied sich nicht sonderlich von anderen sundrischen Ebenen. Die hohen Berge von Heliost gingen hier zu beinahe sumpfartigen Weiden über. Dichter Nebel bedeckte die Landschaft und wurde nur hier und da von einsamen Bäumen und verwitterten Schlössern durchbrochen. All dies fand jedoch schließlich ungefähr zehn Meilen nördlich von ihr sein Ende, wo die Weiden in der sundrischen See mündeten. Weiter nordwärts ließen sich die Umrisse von Stralheim ausmachen – eine erdrückende Unterschrift am fernen Horizont.

Eiskristalle wurden vom Wind umhergeweht. Doch da war auch noch etwas anderes … ein ihr nicht vertrauter Hauch.

Die Sensoren von Kiirs Interceptor flüsterten ihr leise ins Ohr. Sie lenkten ihre Aufmerksamkeit auf einen Vorsprung im Nordwesten, der das Tal überblickte. Nachdem sie ihre Optik etwas abgestimmt hatte, konnte sie spitze Dächer und einen Palisadenwall in der Ferne ausmachen. Sie schienen wie Geister im Nebel zu wabern. 

Langsam kehrte sie zum Erdboden zurück und hakte den Luftschlitten in ihren Anzug ein. Als sie ein zerfallenes Schloss außerhalb des Dorfs ausmachte, legte sie einen Raketensprung hin, der sie quer über das Tal katapultierte und schließlich zwischen den verwitterten Ruinen aufkommen ließ. An ihrem Ziel angekommen, versteckte sie ihren Schlitten, der all ihre Waffen und Lagerausrüstung enthielt, und nahm lediglich ihre Maschinenpistole und einen Dolch mit sich.

Mit stetem Schritt watete sie durch den wirbelnden Eisnebel auf das Dorf vor ihr zu. Der Palisadenwall tat sich aus dem Nebel hervor. Mit einem Satz sprang sie über ihn hinweg und landete geräuschlos in einer Gasse zwischen zwei hölzernen Gebäuden. Ein Rankenwerk aus pinken Kristallen schlängelte sich auf beiden Seiten der Wände entlang. Sie folgte den Kristallen bis zu einem offenen Platz.

Alles, was sie hier umgab – war Zerstörung. Bauernhäuser, die in die Luft gesprengt worden waren und nun nur noch Ruinen darstellten. Leichen, die im kalten Schlamm bereits festgefroren waren. Ein Sentinel-Wachturm, dessen drittes Stockwerk abgebrochen war und dessen oberer Schutzwall vor ihr im Schlamm der Straße ruhte.

Überall Kristalle. Und stets waren sie seltsamerweise in Doppelreihen auf dem Boden und an den Wänden angeordnet. Wie errötete Titanen, die aus pinken Edelsteinen gemeißelt worden waren, hingen sie bedrohlich über der kleinen Stadt. Ergossen sich aus den Schädeln ihrer Opfer. Zischten ihre leisen Ember-Lieder.

Das Echo der Hymne.

Das Wehklagen durchstach erneut die Stille und führte sie zum Rand der Stadt. Dort angekommen, konnte sie ein Dorfmädchen ausmachen. Es war wohl kaum älter als zwölf Winter und weinte neben fünf Gräbern, die erst vor Kurzem ausgehoben worden waren. Ihre Bauernkleidung war in Fetzen und an vielen Stellen verbrannt. Sie kauerte auf dem schneebedeckten Boden, der vom vielen Blut rot verfärbt war.

Ihre unbändige Trauer war nur schwer mitanzusehen. Und doch …

Ein Lächeln schlich sich auf Kiirs Mundwinkel.

Ja. Ja, er war hier.

***

Sie schlug im offenliegenden dritten Stock des Sentinel-Wachturms ihr Lager auf. Sofern der Nebel es zuließ, hatte sie von hier aus einen guten Überblick über die Stadt und das ganze restliche Tal. In ihrem Gepäck befand sich ein Hängezelt, ein Dreibeinstativ für ihr Fernglas und ein kleines Waffenarsenal: ein Scharfschützengewehr, ein Jagdgewehr, zwei Maschinenpistolen, eine Blitzlanze und „Lauge“, ihren ungefähr 22 cm langen, grün glühenden und mit Gift triefenden Dolch. Alles, was sie für ihre Jagd brauchen würde.

Danach verließ sie ihren Javelin, um ihn auf Schäden zu überprüfen. Er war ein speziell auf sie angepasster Interceptor, der mit metallisch-schwarzen Panzerplatten und einem aus feuerfestem Musselin gefertigtem Halbmantel, einer Kapuze sowie einem angehängtem Rock ausgestattet worden war. Sie warf einen besonders kritischen Blick auf die Ember-Ringe an all seinen Gelenken. Die extrem dünnen, orangen Reifen leuchteten warm und regelmäßig in ihren keramischen Behausungen. Das Siegel von Prinzessin Zhim, ihrer Patronin, war in das Silber eingestanzt worden, welches das Kinn ihrer Gesichtsplatte schmückte, und spiegelte den überall um sie herum fallenden Schnee wider.

Als sie mit ihrer Inspektion zufrieden war, flog sie eine Erkundungstour durch das Tal. Im Sommer war das Tal ein kühles aber doch vor Leben sprühendes Paradies, das von einem Fluss gespeist wurde, der vom Helossar-Gletscher ausging. Im Augenblick wurden die südlichen Hänge des Tals jedoch von gefrorenen Wasserfällen gekrönt und zwei hüglige Gebirgsketten ersteckten sich in V-Form außerhalb des Tals. Es ließen sich fünf zerklüftete Bergspitzen ausmachen: zwei auf der linken Seite und drei auf der rechten Seite. Das Dorf befand sich gleich unterhalb der ersten Spitze auf der linken Seite. Zwischen den Gebirgsketten erstreckte sich eine weitreichende Wildnis voll frostigem Sumpfland, eisiger Seen und schneebedeckter Wälder.

Das komplette Gebiet zu durchsuchen, würde viele Tage in Anspruch nehmen.

Als die weiße Sonne den Horizont berührte, kehrte sie in ihr Lager zurück, brachte ein Feuer zum Glühen und wartete. Wolfen trieben sich am Rand des Waldes herum und ihre gelb glühenden Augen ließen ihre Absichten schon aus der Ferne erahnen. Mithilfe des Zielfernrohrs ihres Jagdgewehrs erledigte sie fünf Tiere der Meute innerhalb eines Atemzugs und stapelte sie dann fern der angenehmen Wärme ihres Feuers auf, damit die Kälte sie einfrieren würde.

Während sie eines der Tiere über dem Feuer röstete, zog sich der Rest des Packs in die Dämmerung zurück.

Tageslicht begann langsam, die Szenerie zu erhellen, während sie auf dem gegarten Wolfen kaute. Die steifen Narben auf ihrem Gesicht machten diese sonst so leichte Bewegung zu einer Herausforderung.

Lange Zeit saß sie einfach nur still da. Schweigend lauschte sie den Geräuschen der Wildnis. Dem Knarren der Ruinen des Dorfes, wenn der Wind durch die Gebäude pfiff. Sie beobachtete, wie der Himmel langsam einen lila Ton annahm, dann dunkelblau wurde und sich schließlich vollkommen verdunkelte. Die Sternkonstellationen glänzten im Dunkeln und erzählten von Legenden des Altertums.

Von Göttern und Monstern. Von Jägern und Beute. Die Taten von Sterblichen für immer in den Worten der Sterne in den Himmel eingraviert.

Sie zwang ihre Mahlzeit hinunter und förderte eine Prise grauen Staubs aus einem kleinen Beutel zu Tage, der um ihren Hals hing. Kurz darauf landete der Staub im Feuer. Silberne Schemen und prismatische Symbole schossen in einer glänzenden Explosion gen Himmel und schrieben im Licht der Dämmerung ihre ganz eigenen Mysterien in die kalte Luft.

Sie beäugte die obskuren Bilder, um ihnen eine Bedeutung zu entlocken. Um zu prophezeien, was ihre Jagd ihr wohl einbringen würde. Ruhm? Reichtum? Vielleicht tiefste Genugtuung? Eine Rückkehr zu glücklicheren Tagen, die unter der Last eines Lebens voller Fehltritte begraben lagen?

Kiir seufzte und schloss ihre Augen. Sie konnte die Worte der Gestalter nicht entziffern – das konnte niemand. Sie waren Träumereien von Wesen, die weitaus größer waren als alles, was heute noch Coda bevölkerte. Und doch konnte sie die Hoffnung nicht aufgeben, dass irgendwo dort draußen irgendjemand oder irgendetwas wusste, dass sie hier war. Jemand, der ihre großartige Arbeit zu schätzen wusste.  

Im Gegenzug bat sie nur um die eine Sache, die sie mehr als alles andere brauchte:

Erlösung. 

***

Als der nächste Tag angebrochen war, zeichnete sie eine rudimentäre Karte der Umgebung in ihr Notizbuch, auf der alle auffälligen Orientierungspunkte zu sehen waren: das Dorf, die fünf Berggipfel, die gefrorenen Wasserfälle, die Küste, die zwei gefrorenen Seen und die zerstreuten Lagunen. Gleichzeitig markierte sie sich auch die Stellen, an denen sie die parallelen Linien rosigen Embers gesehen hatte. Sie klafften überall im Tal auf und schlängelten sich durch die Landschaft. Manchmal liefen sie in verhedderten Knoten zusammen, manchmal erstreckten sie sich über Meilen, nur um dann plötzlich und ohne Grund im Sand zu verlaufen.

Zweimal sah sie mit an, wie das Mädchen aus der Stadt Beeren von den nahen Mander-Büschen pflückte. Einen Teil ihrer Beute verschlang sie hungrig an Ort und Stelle, den Rest trug sie durch den Schnee zurück zu ihrem Dorf. Später beobachtete Kiir sie dabei, wie sie die Kaserne der Sentinels betrat – eines der wenigen Gebäude, das den Angriff überstanden hatte und noch nicht zerfallen war.

Durch ihr Fernglas konnte Kiir sehen, wie sich das Mädchen um einen verwundeten Sentinel kümmerte. Er war bewusstlos. Schien Schmerzen zu haben. Er befand sich immer noch in dem gewaltigen Javelin seines Ordens, der gegen eine Säule im Inneren der Kaserne ruhte. Mit sanfter Verzweiflung gab ihm das Mädchen einige Beeren zu essen.

Nachdem sie fast eine halbe Stunde lang ihr Bestes gegeben hatte, um den Mann mit Beeren zu füttern, wandte sich das Mädchen einer Reihe von Aufgaben zu: Sie stützte eine Mauer ab, die sich kurz vor dem Einsturz befand, stopfte Löcher in ihrem zerrüttetem Unterschlupf, durch die der Wind pfiff, und sorgte dafür, dass ihr mickriges Feuer stets Holz besaß.
Kiir strich sich über ihr Kinn und runzelte die Stirn. Trotz der harten Arbeit und ihrer messerscharfen Konzentration war die Situation des Mädchens alles andere als rosig.
Der Winter war gerade erst angebrochen und die Wolfen waren hungrig.

Als das Mädchen später die Kaserne wieder verließ, schlüpfte Kiir hinein und besah sich den Sentinel genauer. Etwas in dem Raum roch schlimmer als bloße Verwesung. Ein blumig, beißender Geruch, der sie an fermentiertes Parfüm erinnerte.

Der Kopf des Mannes war ein echtes Grauen. Eine chimärische Mutation hatte die komplette linke Seite seines Kopfes übernommen. Das Fleisch brodelte und verformte sich. Im Zentrum des infizierten Bereichs konnte sie eine klare Linie des unecht wirkenden, pinken Embers ausmachen. Abgeflachte Pyramiden, die glühten, summten und anscheinend fest in seinem Schädel verankert waren. Eine Wunde am Hals des Mannes war amateurhaft mit Bandagen verbunden worden.

Kiir blieb der Ember-Wunde fern und rollte die Bandagen von seinem Schlüsselbein ab. Der Gestank verrottender Pflanzen erfüllte den Raum wie eine allumfassende Wolke – er war mit keinem Geruch infizierter Wunden zu vergleichen, die sie je gesehen hatte. Sie zwang ihre Übelkeit zurück und besah sich die Wunde genauer.

Blut ran aus vier tiefen und gezackten Schnittwunden unterhalb seines Halses.

Eine Wunde, die ihm ein Tier zugefügt hatte. Ohne Frage tödlich.

Sie ließ die Bandagen auf den dreckigen Boden fallen und schüttelte den Mann. Als er nicht antwortete, drückte sie ihm die klirrend kalte Klinge von Lauge an den Hals. Das brachte ihn wieder zu sich.

„Wer …?“

„Was hat euch angegriffen?“

Seine Augen schweiften über ihren Javelin. „Du … Corvus?“

„Hat die Kreatur diesen Gestank verursacht?“

Er atmete tief ein und schien Verdacht zu schöpfen. „Zuerst hilfst du ihr.“

Kiir hob ihre Gesichtsplatte und warf ihm einen finsteren Blick aus ihrem entstellten Gesicht zu.

Alle Hoffnung schien ihn zu verlassen. Seine Stimme zitterte vor Ekel. „Regulator.“

„Meine Fragen kommen zuerst. Dann rette ich dich und das Mädchen.“

Die Rechtschaffenheit des Sentinels war jedoch immer noch nicht gebrochen. Er sah sie nicht länger an und sprach kein weiteres Wort.

***

Einige Zeit später saß Kiir erneut an ihrem Feuer auf dem Wachturm und rieb sich die steifen Narben in ihrem Gesicht. Sie hatte im Laufe des Tages ein weiteres halbes Dutzend Wolfen erledigt und einer von ihnen war auf seinem Spieß über den Flammen nun beinahe gar.

Während der Wolfen vor sich hin röstete, schlich sich das Mädchen näher. Ihre schmutzigen Füße brachten sie vorsichtig über die Trümmer. Während sie die in Schwarz gehüllte Jägerin keinen Augenblick lang aus den Augen ließ, setzte sie sich schließlich an das Feuer und schüttelte sich vor Erleichterung.

Kiir beobachtete das Mädchen, während es sich die Habe der Jägerin besah: das Zelt, den Luftschlitten, das Dreibeinstativ, das Fernglas und das Arsenal modernster Waffen. Schließlich fielen ihre großen Augen auf den immer noch vor sich hin bratenden Wolfen. Eine Weile später begann sich endlich eine Frage auf ihren Lippen zu formen.

Kiir drehte sich jedoch lediglich ein wenig, um ihr die verletzte Seite ihres Gesichts zu zeigen. Die entsetzlichen Konturen der Narben schienen sich im Schein des Feuers zu kräuseln und glichen eher geschmolzenem Metall als Fleisch. Die Frage des Mädchens erstarb so bereits, bevor sie überhaupt über ihre Lippe gekommen war.

Kiir lächelte. Obwohl ihre Verletzung sie wirklich entstellt hatte, gefiel ihr doch ihre Eigenschaft, Situationen wie diese zu vereinfachen.

Statt einer aufblühenden Diskussion stellte sich zwanzig Minuten lang eine tiefe Stille zwischen dem Paar ein. Dann, ohne Warnung:
„Warum bist du hierher gekommen?“, fragte das Mädchen. 

„Ich bin auf der Jagd.“

„Nach dem Mantikar?“

Kiirs Augenbraue hob sich augenblicklich und ein aufgeregtes Zittern erstreckte sich durch ihren ganzen Körper.

Er war keine Legende. Der Mantikar ist für sie real.

„Ich habe ihn nicht gesehen. Ich schlief, als er kam. Sie sagten, dass es nur ein Jungtier war.“

Kiir sah sie eine lange Zeit lang an, bevor sie schnupperte und den Blick erneut auf das Feuer richtete. „Für diese Information hätte ich Fleisch mit dir geteilt. Ich hätte nicht wissen können, ob du lügst oder nicht.“

Das Mädchen schien unbeeindruckt von ihren Worten. „Was willst du vom Mantikar?“

„Ich kann nicht zulassen, dass eine so gefährliche Kreatur frei herum läuft und die einfachen Leute terrorisiert.“

Stille und Zweifel. 

„Okay, okay.“ Kiir grinste. „Ich bin einfach ein durchtriebenes und gieriges Luder. Ich werde das Vieh fangen und es bei einer Bandenchefin abliefern, um mir ihre Gunst zu verdienen.“

Das Mädchen dachte einige Zeit lang darüber nach und nickte.

Vierzehn, vielleicht? Provisorische Stiefel und nichts als einen zerrissenen Kittel am Leib? Irgendwie noch am Leben … alle anderen sind tot. Kiir wechselte die Sitzhaltung und blickte erneut finster ins Feuer, während sie die Narben in ihrem Gesicht rieb.

„Du wirst ihm nicht helfen, oder?“

„Wem? Deinem Sentinel? Der ist schon so gut wie tot. Wenn er Glück hat, hält er noch bis morgen durch.“

„Was ist mit deinem Gesicht passiert?“

Kiir schnaubte laut. „Das hier? Hab ich absichtlich gemacht. Um Kinder zu erschrecken.“

„Du jagst mir keine Angst ein. Du bist nur alt und hässlich.“ Dann stand sie auf, kehrte ihr ohne zu Zögern den Rücken zu und stapfte davon.

Kiir Hals wurde ganz warm vor Entrüstung. Sie unterdrückte den spontanen Drang, dem Mädchen ein Magazin ihrer Maschinenpistole in den Rücken zu jagen.
Stattdessen schnaubte sie nur und lachte laut los. Dann lehnte sie ihren Kopf zurück und schloss die Augen.

Doch das Lachen zeigte keine Wirkung. Das Mädchen hatte einen wunden Punkt getroffen.

Zweifel strömten von unten auf sie ein. Viel näher an der Oberfläche als je zuvor. Schrecken und Dinge, die sie bereute. Enttäuschungen und die vielen Male, die sie verraten worden war. Die drohende Bestrafung, die sie bei einem Fehlschlag erwartete. Nein … die Wiedergutmachung für eine lange Reihe von Fehlschlägen.

Es war so viele Jahr her, seit all dies begonnen hatte. Zhim und Kiir. Die Mädchen, die töteten, um zu überleben. Jetzt ist sie eine Prinzessin … und was bin ich? Bloß eine weitere ihrer kümmerlichen Untertanen.

Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter und griff sich erneut eine Prise Staub aus ihrem Beutel, bevor sie ihn wütend ins Feuer warf. Erneut jagten ihre Augen in der Explosion plötzlich auftauchender Gestaltersymbole nach einem Heilmittel.

Aber da gab es nichts zu finden. Nur noch mehr Gestalter-Unsinn. Sie trat energisch gegen einen der brennenden Holzscheite und die uralten Diagramme verschwanden im aufsteigenden Funkengestöber.

***

Am dritten Tag wagte sie sich tief in die Wildnis. Sie folgte allen Spuren. Sie brüllte durch den Wald, ließ den Schnee auf ihrem Weg in alle Richtungen fliegen, zerschmetterte gefrorene Bäume mit ihren Antrieben und brachte die Tierwelt dazu, schreiend Reißaus in das tiefere Dickicht zu nehmen.

Der Gedanke an ihr Scheitern hing ihr im Nacken. Wie eine Meute ausgehungerter Wolfen.

Später am selben Tag fand sie im oberen Teil des dritten Berggipfels auf der Ostseite des Tals unter einer überhängenden Klippe, die von Eis übersät war, endlich einen neuen Hinweis: einen Haufen von gefrorenen Leichen. Neunzehn Wolfen, drei völlig leere Arnisaurus-Panzer, eine Reihe von kleinen Tierchen und 27 Menschen – zum größten Teil aus dem Dorf.

Umgeben waren die Leichen von einer schwindelerregenden Anzahl von rötlich leuchtenden Ember-Streifen, die überall die Wände und den Boden bedeckten und stets in den seltsam anmutenden, parallelen Spiralen angeordnet waren. Ohne Frage war es der Mantikar, der diese Ember-Blüten verursachte. Es war nicht ihre Aufgabe, herauszufinden, wie genau er das zustande brachte, sondern die der Arkanisten.

Und dieser allgegenwärtige Geruch … Er war hier irgendwie anders. Es roch immer noch blumig und doch mischte sich ein Hauch von Tod in seine Note. Der katastrophale Fehltritt eines Bestatters.

Sie überwand den Geruch und versuchte, ein besseres Gefühl für das Tier zu bekommen. Es war ganz klar groß. Möglicherweise bewegte es sich auf allen Vieren, wie eine Katze. Seine Länge entsprach mindestens zwei Korox von Kopf bis Fuß. Definitiv größer als ein Sentinel. Vielleicht zwei Köpfe größer als ihr eigener winziger Interceptor.

Das Mädchen hatte gesagt, dass es ein Jungtier war.

Ihre Gedanken kreisten um diese Worte, während sie der Spur aus Ember folgte, die sich über die Flanken von Bäumen, vorbei an Klippen auf dem Boden erstreckte. Erneut fiel ihr auf, dass die kristallinen Spuren urplötzlich ein Ende fanden und dann nirgendwo mehr zu finden waren. Es war fast so, als ob –

Als ob das Ungetüm fliegen könnte. Ein geflügeltes Raubtier, das nach verwesenden Aristokraten stank. So groß wie die Kabine eines Läufers.

Ein primitiver Instinkt ließ sie einen Schritt zurück treten.

Sie hätte definitiv ihren Colossus mitnehmen sollen.

***

Am folgenden Abend machten sich sowohl Furcht als auch Vorfreude in ihren Gedanken breit. Einige der Leichen waren noch frisch gewesen. Sie wusste nun, wo die Kreatur ihre Mahlzeiten zu sich nahm. Sie wusste, dass das Monster zurückkommen würde.

Während sie am gebratenen Bein eines Wolfen nagte und über den Bau eines Tarnvorhangs nachdachte, drang plötzlich ein auf dem Wind daher gleitender Schrei in ihre Ohren. Dieses Mal war es nicht das Mädchen.

Sie lehnte sich über den Rand des zerstörten Bollwerks ihres Wachturms und warf einen Blick durch das Fernglas, um in das Loch der Kasernendecke zu sehen.

Der Sentinel befand sich in den letzten Zügen. Sein Körper warf sich in elenden Anfällen umher und seine Augen waren ein einziges kränkliches Weiß. Absurderweise schüttelte das Mädchen ihn an den Schultern und hielt sein Gesicht in ihren Händen. Sie hörte nicht auf zu weinen. Lange nasse Streifen rannen ihre Wangen hinunter.
Es half alles nichts. Wenige Momente später versteifte sich sein Körper. Dann erschlaffte er endgültig.  

Kiir sah mit an, wie das Mädchen den Körper fast eine ganze Stunde lang umarmte. Einige Zeit später raffte sie sich schließlich auf und griff sich eine Schaufel außerhalb der Palisade. Voll Trauer und Lethargie hob das Mädchen ein sechstes Grab neben den bereits vorhandenen Gräbern aus.

Kiir beobachtete, wie das Mädchen mit dem Anzug des Sentinels zu kämpfen hatte, um seinen Körper aus dem Metall zu befreien. Wie sie den Körper durch das Dorf und zu der Grabstätte schleifte. Wie sie bei dem Versuch versagte. Wie sie zu schwach war, um weiterzumachen. Wie sie halb auf die Leiche des Sentinels und halb in den Schnee fiel. Und wie sie dort völlig regungslos liegen blieb.

Kiir hielt die Szenerie mit klopfendem Herz im Blick. Die Sonne verschwand hinter den Berggipfeln und der Himmel nahm eine lila Färbung an.
Plötzlich wölbte das Mädchen seinen Rücken und stieß dem Himmel einen lauten Schrei entgegen. Erfüllt mit neuem Leben und schreiend wie ein sterbendes Tier, hievte sie den Körper zu seinem Grab.

Und dann … tauchten gelbe Augen am Rand des Waldes auf.

Sie schlichen sich leise und gebückt an. Ihre hervorstehenden Rippen und eingesunkenen Bäuche ließen ihren verzweifelten Blutdurst bereits erahnen. Das Mädchen bemerkte sie jedoch nicht. Ihre Konzentration galt einzig und allein ihrer Aufgabe. Vielleicht vernebelte die Trauer ihre Sinne. Erschöpft und mit leerem Magen.

Das Rudel sprang vorwärts und schnappte nach ihren Händen und Haaren. Sie schwang die Schaufel in wilden, hektischen Bögen und stand dabei mit beiden Füßen über der Leiche des Sentinels. Obwohl die Wolfen ohne Frage ausgehungert und unterernährt waren, waren sie doch trotzdem noch riesig im Vergleich zu dem Mädchen – der Kleinste war immer noch drei Meter lang – und ihre Schädel waren gespickt mit metallenen Auswüchsen. Kein Mensch hatte auch nur gegen einen einzelnen Wolfen den Hauch einer Chance. Zumindest nicht ohne einen Javelin.

Einer der Wolfen bekam den Arm des toten Sentinels zu fassen und zerrte den Körper unter ihren Füßen hervor. Sie landete schnurstracks im Schnee und ihr Kopf schlug hart auf dem eiskalten Boden auf. Das Rudel brauchte nicht länger als einen Herzschlag, um den toten Sentinel in blutige Einzelteile zu zerlegen.

Dann richteten sie ihre Aufmerksamkeit dem Mädchen zu und sprangen vorwärts. Kichernd und sabbernd. Ihre schimmernden Fangzähne bereits gebleckt. Das Mädchen schaffte es nicht, auf die Beine zu kommen. Sie war benommen und immer noch nicht ganz bei sich nach ihrem Sturz.

Plötzlich … flackerte ein Wirrwarr aus grünem Licht über einen Wirbel aus dunkelstem Schwarz, wie eine Meute Krähen, die sich auf einen Schwarm Glühwürmchen gestürzt hatte. Ein Wolfen wurde beinahe vollkommen in zwei geteilt. Zwei weitere starben nur einen Sekundenbruchteil später.
Das Rudel verstand schnell, was gerade vor sich ging, doch drei weitere starben, bevor sie sich in den Wald flüchten konnten und Kiir ihren Javelin auf eine sichtbare Geschwindigkeit drosselte. Ihre gepanzerte Brust hob sich schwer vor Anspannung und die Polsterung ihres Anzugs war bereits voll Schweiß.

***

Das Mädchen kam nur langsam zu Sinnen. Sie fand sich eingewickelt in einer Decke wieder, während neben ihr ein Feuer vor sich hin knisterte. Eine Stelle an ihrem Kopf war rot und nässte. Ein Wolfen drehte sich sanft auf seinem Spieß.

Kiir saß in der Nähe. Ihr üblicher grimmiger Blick hatte sich zu einer entschlossenen Grimasse gewandt. Sie legte einen Teller mit Wolfenfleisch neben das Feuer. „Iss.“

Das Mädchen erhob sich langsam und sah sich genau um. Erst das Fleisch. Dann die Jägerin.

„Iss. Du wirst die Stärke morgen brauchen.“

„… warum?“

„Wir jagen einen Mantikar.“

***

Niemand kann den Umgang mit einem Javelin in nur einer Woche meistern. Aber Kiir hatte dem Mädchen ein Versprechen gegeben. Sie würde schießen. Sie würde fliegen. Sie würde den Mantikar jagen und besiegen. Und das alles in nur einer Woche.

Der Anzug des Sentinels war für einen Captain gedacht und verfügte über einige besondere Fähigkeiten. Die Ember-Ringe knarrten etwas, als Kiir sie unter die Lupe nahm, und ein Hauch von leuchtendem, orangen Staub glitt zu Boden. Sie wischte ihn jedoch lediglich weg und machte sich dann daran, den Javelin wieder flugbereit zu machen. Es gab keine Zeit für Kleinigkeiten, denn es war ganz ohne Frage möglich, dass der Mantikar nicht sonderlich lange im Tal verweilen würde.

Am ersten Tag lernte das Mädchen zu schießen und nachzuladen. Am zweiten Tag lud sie ihre Energieschilde auf. Am Dritten war sie in der Lage dazu, die Sentinel-Barriere einzusetzen und so sich selbst und andere Verbündete vor einem Frontalangriff zu schützen. Am Vierten hatte sie verstanden, wie sie mit der Blitzexplosion des Captain-Anzugs umzugehen hatte. Das könnte praktisch sein, wenn sie denn nah genug an die Kreatur herankommen würde.
Fliegen stellte sich allerdings als Herausforderung dar. Das war es für alle Anfänger.

In der Zwischenzeit bauten sie den Tarnvorhang. Sie mussten dabei sehr sorgfältig vorgehen. Jedes Mal, wenn sie die Futterstelle der Kreatur besuchten, stießen sie auf neue Tierleichen, die dem Haufen hinzugefügt worden waren. Die Kreatur war ihnen wirklich nah.

Am sechsten Tag hatte das Mädchen die Grundlagen verstanden. Nur jahrelanges Training würde sie nun noch weiter bringen. Alles, was Kiir tun konnte, war, das Mädchen davor zu warnen, nicht allzu komplizierte Manöver mit ihrem Anzug zu versuchen. Sie hatte schon einige Anfänger erleben müssen, die sich ihr Rückgrat gebrochen hatten, weil sie sich an einer zu rasanten Drehung versucht hatten.

Doch das Mädchen wurde zusehends stärker. Nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Ihr Konzentrationsvermögen war angeboren – soviel war Kiir von Anfang an klar gewesen. Doch mit einem eigenen Javelin unter ihrer Kontrolle und einer starken Waffe in den Händen, wandelte sich ihr Fokus immer mehr zu einer dunkleren Entschlossenheit. Kiir kannte diesen Wandel nur zu gut.

Die Stärke, um sich zur Wehr zu setzen, war die Stärke, mit der man sein eigenes Schicksal schmieden konnte. Die Stärke dazu, seine eigene Existenz weiter in die Zukunft tragen zu können.

„Er hat mir gesagt, dass du böse bist.“

Sie saßen auf einer frostigen Klippe, von der aus man den Rest Tals überblicken konnte, und erholten sich gerade von ihrem Flugtraining. Das Mädchen war mit der Zeit immer ruhiger geworden.

Kiir grinste, während sie ihre Maschinenpistole polierte. „Wer?“

„Sentinel Jenin.“

Kiir zuckte nur mit den Schultern und machte sich wieder an die Arbeit. „Schlauster Sentinel, den ich je getroffen habe.“

„Also bist du es. Böse.“

Kiir runzelte die Stirn und blickte zum kalten Himmel hinauf. „Ich hatte meine Momente.“

„Hat sie dich zu dem gemacht, was du jetzt bist? Die … Bandenchefin?“

Kiir steckte ihre Pistole weg. „Du sprichst hier von ihrer königlichen Hoheit Prinzessin Zhim. Und nein – wir haben uns das gegenseitig angetan.“

Normalerweise hätte Kiir die darauffolgende Stille als angenehm empfunden. Doch irgendetwas drängte sie dazu, weiter zu sprechen. „Wir wurden als Kinder zurückgelassen. Man erzählte mir, dass wir uns auf einem Fischerboot zum ersten Mal kennenlernten. Ich habe bereits Salz-Larkins ausgenommen, bevor ich überhaupt reden konnte. Das war außerhalb von Vadys, im Saum. Weißt du, wo das ist?“

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

„Dann hast du Glück. Die meisten Kinder dort sind Sklaven. Aber als wir Zwölf wurden, entschieden wir unter uns, dass die Sklaverei uns nicht wirklich lag.“

„Was habt ihr dann gemacht?“

„Wir stahlen alles mögliche. Aßen alles, was wir uns erbetteln konnten. Tauschten Dinge gegen Gefallen. Und tauschten diese Gefallen dann gegen Freunde ein.“ Kiir hielt kurz inne und blickte erneut auf diese langen Jahre zurück. Auf all die Pläne und Fallen. Lügen und Giftmorde. Vier blutige Hände, die im Dunkeln ihre Opfer erwürgten.

Sie schnaubte und rieb sich das Kinn. „Die Dinge eskalierten etwas von da an.“

Das Mädchen blinzelte einige Male. „Ihr habt Menschen getötet?“

„Wir taten, was wir mussten, um zu überleben.“

„Aber jetzt streitet ihr euch?“

„Hm?“

Das Mädchen schluckte nervös und wählte ihre Worte mit Bedacht. „Mit der Prinzessin? Du sagtest, dass du den Mantikar jagst … um dir ihre Gunst zu verdienen.“

Kiir wandte augenblicklich den Blick ab. Manchmal war das Mädchen viel zu scharfsinnig für ihr eigenes Wohl. Diese Eigenschaft erinnerte sie an Zhim.

Sie verpasste ihr jedes Mal einen Stich in ihr Herz.

Schweigend erhob Kiir sich. „Morgen brechen wir auf. Bereite dich vor.“

***

Sie glitten durch die eiskalte Luft und ihre Düsen brachten sie schnurstracks zur Futterstelle des Mantikars. Kiir deutete auf einen Überhang an der gekrümmten Einbuchtung der Hügelkette. Das Mädchen nickte. Der Tarnvorhang, den sie gebaut hatten, war immer noch dort.

Eine Wolke zog über ihre Köpfe hinweg. Etwas bewegte sich am Rand ihres Sichtfelds. Sie konnte es riechen, bevor der Angriff sie traf.

Tod und Blumen.

Ihr Visier war geblendet und jeder Alarm ihres Anzugs schrie sie gleichzeitig an. Sie stürzte ab und schrie laut in ihrem Helm auf. Doch sie hatten keine Möglichkeit, über Distanz miteinander zu kommunizieren. Es gab keinen Krypter, der ihre Worte weitergeben konnte.

Alles war tot. Ihre Antriebe verwandelten sich in nutzlosen Ballast auf ihrem Rücken. Die Schwerkraft lockerte ihren unnachgiebigen Griff, als ihr schwerer Stahlkörper wie ein Stein auf dem schneebedeckten Boden aufprallte. Die Welt drehte sich unaufhörlich in absoluter Dunkelheit.

Lautes Knirschen war zu hören. Dann war alles still. Sie dachte, sie wäre tot.

Dann flog ihre Gesichtsplatte ab. Das elektrische System hatte erkannt, dass ihr langsam die Luft ausging. Alles, was von den Ember-Ringen angetrieben wurde, blieb allerdings offline. All ihre Waffen waren beim Absturz verloren gegangen. Alle außer einer vielleicht …

Die weiße Wildnis umgab sie von allen Seiten und Schnee fiel in stillen Wirbeln zu Boden. Nichts rührte sich. Sie konnte nur hoffnungslos gegen ihren Anzug ankämpfen und nach dem Mädchen rufen.

Wenn dein Anzug stirbst, stirbst auch du. Eines der weniger heiteren Freelancer-Sprichwörter. Es traf ganz offensichtlich zu. Ein toter Anzug war nicht mehr als ein mit Blei beschwerter Sarg.

Sie schwor sich, nicht in Panik zu geraten. Zu atmen, zu schreien und darauf zu hoffen, dass ihr Anzug sich wieder zurücksetzen würde. Aber alles, was sie hören konnte, war das leise Klicken der sich langsam abkühlenden Motoren und des sich zusammenziehenden Metalls. Und so folgte die Panik ihrem Befehl nicht und nahm ihren Lauf.

Dann schlug der Mantikar im Schnee vor ihr auf und wirbelte ihn in die Luft.

Er war gigantisch. Mindestens zwei Ursix von Kopf bis zum Schwanz. Ein katzenartiger Körper: lang und geduckt, mit klauenbesetzten Pfoten, einem sehnigem Schwanz und dichten Muskeln. Das war aber auch alles, was er mit einer gewöhnlichen Gossenkatze gemein hatte.

Er besaß einen riesigen, schweren Hundekopf mit gewaltigen, verwirbelten Hörnern und einem großen, dünnlippigen Mund, in dem viele Reihen leuchtender Zähne im schummrigen Licht aufblitzten. Sein schiefergrauer Körper war übersät mit Büscheln von Fell und vielen indigoblauen Schuppen. Fünf winzige, pink leuchtende Augen waren in einer diamantartigen Formation auf seinem Kopf angeordnet. Alle Fünf waren auf sie gerichtet.

Kiir schrie nach Hilfe, während die Bestie sich langsam auf sie zubewegte. Der durchdringende Geruch wurde mit jedem Zentimeter unangenehmer. Rosen. Verrottetes Fleisch.

Was als Nächstes geschah, hätte gut und gerne direkt aus einer der Gestalter-Mythen gewesen sein können.

Zwei pinke Ranken erhoben sich aus den Schultern der Kreatur – so dünn wie Seile und vollkommen durchsichtig. Sie krümmten und verdrehten sich über ihr, während sie sich zu Symbolen formten. Zu Diagrammen. Zu Figuren.

Zu Gestalter-Worten.

Sie woben und glitten durch die Luft, als wären sie Unterwasser. Und überall dort, wo sie mit dem Boden in Berührung kamen, ließen sie grell pinkes Ember erscheinen. Bereits vollständig geformt.

Plötzlich fühlte sie, wie der Anzug zuckte und die Motoren sich in Bewegung setzten. Wie ein toter Körper, der von einem sterbenden Gehirn versklavt wurde. Die Ember-Ringe in ihrem Anzug zischten und kreischten ein kurzes Lied.

Der Javelin kommunizierte mit dem Ember. 

In einem kurzen Moment der Klarheit erinnerte Kiir sich an die zersetzten Ember-Siegel des Sentinels. Sie waren durch den Angriff des Mantikars verändert worden – wahrscheinlich hatte sich ihre Form verkrümmt und verändert und aus diesem Grund gegen die keramische Behausung gerieben. Selbst die kleinste Verschiebung von Ember konnte einen Javelin destabilisieren. Wieso war ihr diese simple und offensichtliche Schlussfolgerung nicht schon viel früher gekommen?

Ganz so, als würde er ihre Ablenkung wahrnehmen, knurrte der Mantikar und beugte seinen Kopf tiefer. Seine Hinterbeine spreizten sich an und bewegten sich vor und zurück. Er würde springen. Ihren Körper in Einzelteile zerlegen. Sie Stück für Stück aus dem Anzug reißen, als wäre er lediglich die Schale einer vorzüglichen Muschel.

Sturmgewehrfeuer ratterte durch die Luft und ein Schatten landete in der Nähe. Der Mantikar zog sich im Kugelhagel zurück und seine pinken Ranken verwoben sich miteinander, um eine schützende Barriere zu bilden. Das Mädchen im Sentinel-Anzug stürmte vorwärts und stellte sich schützend vor Kiir, bevor es seine Schildbarriere aktivierte.

„Steh auf!“

„Ich kann nicht! Lass dich nicht von den Ranken berühren! Sie lösen Fehler in deinem Anzug aus!“

Der Mantikar brüllte nur und sprang vorwärts, während sich eine doppelte Linie aus kristallinen Auswüchsen im Schnee bildete. Er sprang über die Barriere, um nach dem Mädchen zu schlagen, und gab ein unglaubliches tiefes Knurren von sich.

Das Mädchen wich mit atemberaubender Schnelligkeit aus. Bevor sie die Bestie von Kiir weglockte, schaffte sie es, die Auswurfschnalle an der Rückseite ihres Anzugs zu aktivieren.

Der Anzug entfaltete sich. Kiir kletterte aus dem Anzug und machte sich an seinem Wadenfach zu schaffen. Die Blitzlanze fiel in ihre Hand und sie hob sie in die Höhe. Aus dem handtellergroßen Zylinder traten auf beiden Seiten weiße Blitze hervor, die vor Energie geradezu sprühten. Dann sprintete sie durch den Schnee und nahm die Verfolgung der zwei Kämpfer auf.

Der Mantikar warf sich mit seiner Flanke gegen das Mädchen. Seine indigoblauen Schuppen warfen alle Kugeln zurück und er entwaffnete sie mit nur einem Streich seines dicken Schweifs. Überall in ihrer unmittelbaren Umgebung hatten pinken Kristalle zu wachsen begonnen und erschienen wie Geysire aus gefrorenem Glas. Das Mädchen wich einem weiteren Sprung aus, rollte sich im Schnee ab, schnappte sich ihr Gewehr und gab dann vollen Schub mit ihren Düsen. Die tödlichen, pinken Ranken schlugen nach ihr aus und verfehlten sie nur um wenige Zentimeter.

Blitzschnell richtete sich Kiir zu ihrer vollen Größe auf und bereitete sich darauf vor, die Lanze nach vorne zu schleudern. Doch bevor es dazu kam, zögerte sie. Sie würde nur eine einzige Gelegenheit haben, denn ihr Anzug, mit dem sie die Waffen normalerweise wieder auflud, war gerade nicht einsatzbereit.

Der Mantikar nutzte die Chance. Im Bruchteil einer Sekunde verformten sich die pinken Ranken zu großen drachenartigen Flügeln, bevor er sich mit einem Satz in die Lüfte schwang.

Das Mädchen nahm die Verfolgung auf und beide hoben ab, um nur wenige Sekunden später hinter den Wolken zu verschwinden.

Kiir rannte vorwärts und sah nach oben. In den Wolken donnerten pinke und blaue Explosionen und die stotternden Blitze von Sturmgewehrfeuer brachten sie zum Leuchten. Kiir konnte nur zusehen. Mit schwerer Brust lauschte sie dem Kampflärm.

Plötzlich prasselten überall um sie herum pinke Kristalle vom Himmel und schlugen mit tödlicher Geschwindigkeit in den Schnee ein. Kiir suchte Deckung unter den Bäumen. Die Kreatur hatte die Wolken selbst in einen Ember-Hagelsturm verwandelt.

Der Mantikar schlug sich durch die Wolken und flog durch den tödlichen Regen, wie ein Reiter in einem Sturm. Er erspähte Kiir und stieß augenblicklich zu ihr hinab. Das Mädchen befand sich in seinen Klauen – bewegungslos und ohne Lebenszeichen.

Kiir rannte verzweifelt in den Wald und steuerte geradewegs auf die dichteste Stelle zu. Der Mantikar folgte ihr mit der halsbrecherischen Geschwindigkeit seines freien Falls und als er auf dem Boden angekommen war, verwandelten sich seine Flügel wieder zu vielen Ranken, die über den Boden und die Bäume tanzten und den Wald so mit summenden Ansammlungen tödlicher Kristalle dekorierten.

Doch die Bäume taten ihre Arbeit. Der Mantikar rammte sich mit dem Kopf zuerst durch ihre Stämme, brach sie entzwei und ließ sie zu Boden krachen, wodurch Unmengen an Schnee in die Luft gewirbelt wurden. Die Verwirrung des Mantikars stieg zusehends. Er hatte Kiir aus den Augen verloren. Er hatte nicht bemerkt, dass sie sich hinter ihn geschlichen hatte. Er hatte nicht bemerkt, dass sie ihre Lanze erhoben hatte.

Eine Supernova aus blitzenden Elektrobögen, wirbelndem Schnee und explodieren Ember-Stacheln verschlang auf einmal die Kreatur. Kiir fiel zurück und schützte ihre Augen vor dem Licht.

Als der Sturm sich gelegt hatte, sah sie erneut auf. Ein kristalliner Garten aus rosigem Eis hatte sich in die Höhe erstreckt und ringförmig nach Außen hin ausgeweitet, wodurch sein Inneres verborgen wurde. In seinem Zentrum erfüllten immer noch Funken und blaues Licht die Szenerie. Ein tiefes Stöhnen echote durch das Tal.

Kein Anzeichen von dem Mädchen.

Kiir bahnte sich vorsichtig einen Weg durch das Labyrinth der emporragenden, durchsichtigen Steine. Ihre Hände zitterten noch vom Kampf, als sie ihre Beute endlich zu Gesicht bekam.

Der Mantikar war gefangen in einem glitzernden Netz aus blauem Sternenlicht. Die Explosion der Blitzlanze hatte sich wie ein Netz um das Monster verdichtet, seine Glieder gefesselt und es bis zur Benommenheit betäubt. Die Ranken schwebten träge umher und befanden sich nicht länger unter seiner direkten Kontrolle. Seine fünf Augen blitzten mit ruhig gestelltem Zorn.

Das Mädchen war da. Sie stand über dem Monster und ihr Anzug dampfte im Schnee. Ihre Hände fest um das Gewehr geschlungen.

„Du hast sie getötet“, murmelte sie, als wäre sie selbst in überraschter Benommenheit. 

Kiir wusste, was als nächstes passieren würde. Ihr eigener Überlebenswille flehte sie an, das Mädchen aufzuhalten. Sie musste sie aufhalten, bevor ihre Jagdbeute nichts mehr wert war.

„Alle … alles, was ich hatte.“ Sie drückte den Lauf des Gewehrs gegen die Stirn des Monsters, genau in das Zentrum seiner diamantenen Augen. Mit dem vollen Gewicht ihres Körpers drückte sie es vorwärts, als wollte sie den Lauf selbst direkt in das Gehirn der Kreatur pressen. Ihr Finger zitterte über dem Abzug. Ihr Gesicht gepackt von der roten Hitze der Rache.

Kiir sah ihr wie gelähmt zu. Sie brauchte die Kreatur lebend. Der Lauf des Gewehrs des Mädchens würde Kiirs Zukunft in zwei völlig unterschiedliche Richtungen teilen.

Doch dann beugte sich das Mädchen vorn über. Ihr Gewehr entglitt ihrem Griff und fiel zusammen mit ihren Knien in den Schnee. Tränen überströmt ihr Gesicht und die rote Hitze verebbte mit ihrer Trauer.

In Kiirs Augen war sie erneut zu dem trauernden Mädchen geworden, das vor dem Dorfgrab gekauert hatte. Das mit aller Macht gegen den eiskalten Dreck gekämpft hatte, der sie stets unter die Erde ziehen wollte. Die Nächste, die sich den Gefallenen anschließen würde.

In diesem Moment fühlte Kiir sich dem Mädchen endlich nah.

***

Die Fanfare dröhnte und der Page kündigte ihr Kommen an. „Die Dame Aushkiir.“

Der „Adel“ machte Platz für die Jägerin in strahlend schwarzer Rüstung, die bis zu den Zähnen bewaffnet war, als sie Zhims Hof betrat.

„Na sieh mal einer an … die Jägerin kehrt von ihrer legendären Tat zurück.“ Die Laternen flackerten im Wind der Höhle und tauchten die Prinzessin in ein waberndes, goldenes Licht. Sie lächelte finster – wie immer.

Kiir besah sich die Versammelten mit einem Seitenblick und verbeugte sich. „Eure Hoheit.“

Zhim grinste theatralisch und lies ihren Blick durch den Raum gleiten, als würde sie mit einem Kind Verstecken spielen. „Nanu? Kein Mantikar an einer Leine?“

Der Hof kicherte. Sie alle wussten, dass die Mission nur eine Farce gewesen war, um die Dame Aushkiir ein für alle mal loszuwerden. Eine Selbstmordmission. Für eine Jägerin, welche die Prinzessin schon zu oft enttäuscht hatte. Eine Freundin, die sich in eine Versagerin verwandelt hatte.
„Stattdessen sehe ich hier nur eine schmutzige Ratte. Und … puh!“ Sie wedelte sich etwas Luft zu. „Eine Ratte, die dringend ein Bad benötigt. Ich frage mich, wo du wohl eines finden wirst“, sie lachte bedeutungsschwanger.

Doch Kiir sah die erschöpfte Entschlossenheit hinter Zhims Augen. Eine Verpflichtung zu ihrer neuen Rolle als „Adlige“. Die Notwendigkeit, nach Außen keinerlei Mitgefühl ausstrahlen zu dürfen. Vor allem nicht für eine alte Freundin, die nicht mehr ihren Beitrag leisten konnte.

Kiir richtete sich auf und förderte eine beschriftete Kiste zu Tage. Der Gestank im Zimmer verstärkte sich um ein Vielfaches. Selbst die Prinzessin schien ihren Sinn für Humor zu verlieren. Zumindest für einen Moment.

„Ich fand den Mantikar – oder zumindest einen von ihnen – in einem Bergtal im Norden von Helios. Er hatte ein ansässiges Dorf zerstört, alle Sentinels und viele der Dorfbewohner getötet sowie die örtliche Fauna fast bis zur Ausrottung gejagt. Ich verfolgte ihn bis zu seiner Futterstelle und … er hat unser Aufeinandertreffen nicht überlebt. Ich habe eine Reihe von Skizzen für die Arkanisten angefertigt.“ Sie zog eine Schriftrollenhülle aus ihrem Umhang hervor.

Einer der Arkanisten richtete seine Brille und eilte auf sie zu, um die Rolle in Empfang zu nehmen. Doch Zhim hielt ihn mit dem Wink ihrer Hand und einem ernsten Blick zurück. „Ich wollte ein Haustier. Kein hübsches Bild.“

Kiir nickte. „Während meiner Jagd traf ich auf ein Mädchen, das den Angriff auf das Dorf überlebt hatte. Er hatte ihr alles genommen. Alles … außer ihrem Überlebenswillen.“

Zhims Blick wurde zusehends düsterer. Es war äußerst gefährlich, die Bandenchefin zu kränken.

„Ich gab ihr den Mantikar, eure Hoheit. Sie brauchte ihn. Mehr als wir.“

Zhim starrte ihr ins Gesicht, ohne mit der Wimper zu zucken. Kiir spürte, dass ihr Schicksal an einem seidenen Faden hing.

„Als Entschuldigung überbringe ich euch ein Geschenk“, sagte sie und hob den Deckel der Kiste an.

Im Inneren befand sich ein Organ. Es sah aus wie eine Kombination aus Seestern, Pilz und Tintenfisch und es wandte sich, schmatzte und stank so sehr wie ein Rosenstrauß, der in fermentiertes Aas gewickelt worden war. „Der Pheromonsack eines jungen Mantikars.“

Drei Adlige und der Colossus des Hofes erbrachen sich augenblicklich auf die Teppiche. Die meisten anderen flüchteten aus dem Raum. Kurz darauf waren nur noch Zhim und der Arkanist übrig, der nur durch Zhims eisernen Griff an Ort und Stelle gehalten wurde.

„Ich dachte mir, dass Ihr Nutzen für so einen kostbaren Schatz finden würdet.“ Kiir bot die Kiste der Prinzessin dar.

Zhims Mund kräuselte sich langsam zu einem weiten Lächeln. Sie verschloss die Kiste und nickte dann dem Arkanisten zu. Zögerlich nahm er die Kiste entgegen, ergriff die Schrifftrollenhülle aus Kiirs Hand und flüchtete dann ebenfalls aus dem Raum.

Dann ergriff Zhim Kiirs Arm. „Aushkiir …“, sagte sie mit tiefer und ehrlicher Stimme. „Du hast mich daran erinnert, dass mir deine Geschenke unter allen Schätzen unseres Reiches immer noch am meisten gefallen.“

Kiir nahm einen tiefen Atemzug und setzte zu einer Verbeugung an. Doch Zhim ließ sie in der Bewegung innehalten und geleitete sie stattdessen in das Teezimmer. „Reden wir also über deinen Mantikar. Du musst mir alles erzählen. Lass kein Detail aus.“

Sie saßen zusammen und tranken. Der Tee verschwand und wurde nachgefüllt, während ihn Teller voll seltener, importierter Delikatessen begleiteten. Kiir erzählte ihr die ganze Geschichte – jedes Detail. Zhim lauschte mit wachsender Aufmerksamkeit. Bald schon lachten sie zusammen und dachten an andere Abenteuer zurück, die sie in ihren langen Jahren zusammen bestritten hatten. Und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit fühlte sich Kiir zufrieden.

Ein weiteres Mal glitten Kiirs Gedanken zu dem letzten Mal zurück, als sie das Mädchen gesehen hatte: Auf der Klippe, von der aus man einen guten Blick auf die zerstörten Überreste ihres Dorfes hatte. Gehüllt in einen knochenweißen Javelin – der größten Waffe, die jemals von der Menschheit geschmiedet wurde. Der Anblick, wie das Mädchen ihre eigene Existenz weiter in die Zukunft projizierte.

Dieses Bild brachte Kiir zum Lächeln und sie fragte sich, ob die Geschichte ihrer Jagd eines fernen Tages Kindern erzählt werden würde. Die Geschichte einer Schurkin, die gekommen war, um eine Bestie zu fangen, und stattdessen eine Heldin schmiedete.

Es schien ihr wie eine Geschichte, die eine Konstellation wert war. Eine Geschichte, die mit den Worten der Sterne erzählt werden würde. 

 


Besonderen Dank an Jessica Campbell.


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